Im Vorfeld des für den 5. Juli erwarteten Gesetzesvorschlags für eine Deregulierung von Neuer Gentechnik (NGT) schlagen 100 Saatgutzüchter:innen, Bäuer:innenverbände und Umweltschutzorganisationen Alarm bei Europas Agrarminister:innen:
„Wenn das EU-Gentechnikrecht dereguliert wird, wird es in der EU zu einer Flut von patentiertem Saatgut kommen, die sowohl gentechnisch verändertes als auch konventionelles Saatgut umfassen wird“, warnen die Unterzeichner:innen. „Dies hätte schwerwiegende Folgen, vor allem für kleine und mittlere Saatgutzüchter:innen, Bäuer:innen, Lebensmittelhersteller:innen und Verbraucher:innen.“
Offener Brief fordert ein Eingreifen der Agrarminister:innen
In dem Offenen Brief fordert die Zivilgesellschaft die Agrarminister:innen aus ganz Europa auf, sich gegen eine Aufweichung des EU-Gentechnikrechts zu positionieren und einen derartigen Gesetzgebungsprozess nicht weiter voranzutreiben. Die Auswirkungen einer Gesetzesänderung auf Patente auf Saatgut wurden durch die EU-Kommission nicht evaluiert, obwohl von Anfang an klar war, dass sie schwerwiegende Bedrohungen sowohl für die Landwirtschaft als auch für die Saatgutzucht mit sich bringen werden.
In Österreich unterzeichneten ReinSaat GmbH, ARCHE NOAH, IG Saatgut, die bäuerlichen Organisationen BIO AUSTRIA Erde & Saat sowie ÖBV – Via Campesina Austria, ARGE Gentechnik-frei, die Arbeiterkammer, FIAN Österreich und GLOBAL 2000 den Offenen Brief an Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig.
Offener Brief an Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig (©Global 2000)
Patente auf NGT-Pflanzen und deren Auswirkungen
Fast alle, wenn nicht sogar alle Pflanzen, die mit NGT entwickelt werden, sind durch Patente geschützt.
„Die EU-Kommission hat die enge Verstrickung von Patenten und Neuer Gentechnik bisher ignoriert. Der geleakte Gesetzesentwurf fördert jedoch den Markteintritt von patentiertem Saatgut und somit die Monopolisierung von Saatgut. Gentechnik ist nicht nur eine wissenschaftliche Technik, sondern ein Hebel für die Großkonzerne, ihre Kontrolle über unser Ernährungssystem weiter auszubauen!“, so Katherine Dolan, ARCHE NOAH.
Bisher schreibt das EU-Gentechnikrecht die Rückverfolgbarkeit und Kennzeichnung für gentechnisch veränderte Organismen (GVO) vor. Nach intensiver Lobbyarbeit der Chemie- und Saatgutindustrie ist die EU-Kommission nun scheinbar bereit, Saatgut, das mit Neuer Gentechnik erzeugt wurde, von den GVO-Vorschriften der EU auszunehmen.
Patentierte Eigenschaften von Pflanzen?
Im Gegensatz zur konventionellen Pflanzenzucht sind sowohl die Verfahren als auch die Produkte der neuen gentechnischen Verfahren nach EU-Recht patentierbar. Espacenet, die Datenbank des Europäischen Patentamts, listet rund 700 Patentanmeldungen allein für “Crispr-Cas9 und Pflanzen” auf, offizielle Zahlen fehlen. Auf internationaler Ebene wurden über 20.000 Patentanmeldungen eingereicht, die sich auf den Begriff “Crispr-Cas9-Pflanze” beziehen.
Die Patentanmeldungen beziehen sich in der Regel sowohl auf das spezifische technische Verfahren (z.B. die Verwendung von Crispr-Cas9 zur Erhöhung des Stärkegehalts in Kartoffeln) als auch auf die spezifische Eigenschaften, die sich aus dem Verfahren ergeben (z.B. die Resistenz gegen eine bestimmte Krankheit bei der Keimung unter höheren Temperaturen).
Der Umfang der Patentansprüche ist oft sehr weit gefasst. Die Patente beanspruchen in der Regel alle Pflanzen mit dem spezifizierten Merkmal, unabhängig davon, wie die Pflanzen gezüchtet wurden – auf diese Weise kann der Geltungsbereich der Patente auch für konventionell gezüchtete Pflanzen und bäuerliches, lokales und traditionelles Saatgut gelten, obwohl diese nach EU-Recht nicht patentierbar sind. Derartige Patente erstrecken sich darüber hinaus auch auf die Ernte und die Lebensmittel, die das beanspruchte Merkmal enthalten.
Freier Zugang zu Saatgut gefordert!
„Wenn NGT-Saatgut nicht mehr im EU-Gentechnikrecht geregelt sein sollte, führt dies zu einer Flut von patentiertem Saatgut, das auf den Markt kommt, und zu einem ’Patentdickicht’, das für die meisten Pflanzenzüchter:innen und Landwirt:innen undurchschaubar wird. Dies wird den Zugang zu genetischem Material für Pflanzenzüchter:innen massiv behindern, obwohl der freie Zugang für die Entwicklung neuer Sorten unerlässlich ist“, so Eva Gelinsky, politische Koordinatorin der IG Saatgut.
Saatgutpatente behindern die Innovation in der Pflanzenzüchtung eher, als dass sie sie fördern, da sie den Zugang zu wichtigen Pflanzenmerkmalen blockieren oder ihn auf diejenigen beschränken, die für eine Lizenz bezahlt haben, sofern diese verfügbar ist.
Schwerwiegende Folgen für Saatgutzüchter:innen, Bäuer:innen und Verbraucher:innen
„Vor allem kleine und mittlere Pflanzenzüchter:innen werden vom Markt verdrängt. Das vergrößert die Macht der globalen Saatgutkonzerne. Die Deregulierung der Neuen Gentechnik wird ganz bewusst zur Schaffung neuer Saatgut-Monopole genutzt!“, kritisiert Rafael Graf, Geschäftsführer der ReinSaat GmbH.
„Die Deregulierung von Neuer Gentechnik ist eine Gefahr für Bäuerinnen und Bauern. Denn nicht nur die Verfahren der Neue Gentechnik, sondern damit auch Pflanzeneigenschaften können patentiert werden. Das Vermehren ihres eigenen traditionellen Saatguts wird für Bäuerinnen und Bauern dann zum finanziellen Hochrisiko-Projekt. Schließlich können sie nicht wissen, ob das Saatgut nicht bereits patentierte genetische Informationen enthält. Wenn dem so ist, drohen Patentverletzungsklagen, die bäuerliche Existenzen gefährden können. Öffnet man die Türe für NGT-Pflanzen, werden daher Bauern und Bäuerinnen zu zahlenden Bittstellern bei Konzernen“, so BIO AUSTRIA Obfrau Barbara Riegler.
Patente schränken Auswahlmöglichkeiten beim Saatgut ein
Patente schränken zudem die Auswahlmöglichkeiten beim Saatgut ein. Gleichzeitig wird die Möglichkeit, klimaresistente Nutzpflanzen zu züchten, durch die Verringerung der genetischen Vielfalt eingeschränkt.
„Gerade in Zeiten der Klima- und Biodiversitätskrise ist es wichtig, dass den Züchter:innen und Bäuer:innen eine ausreichende Vielfalt an genetischen Ressourcen für die lokale Züchtung und Nutzung zur Verfügung steht. Die Zukunft liegt in einer vielfältigen Landwirtschaft und selbstbestimmten Ernährung, die Hand in Hand mit echtem Klima- und Umweltschutz geht“, betont Brigitte Reisenberger, Gentechniksprecherin von GLOBAL 2000, abschließend.